Mai 11, 2006

Anja: Business as usual


Der Wecker klingelt um sieben- spätestens. Die Augen gehen sofort auf, obwohl der schlaftrunkene Geist noch gar nicht richtig einschätzen kann in welcher Lage er sich gerade befindet, spult der Körper routiniert sein Programm ab. Aus dem Radiowecker dudelt eine undefinierbare Mischung aus Rauschen und zwei verschiedenen Sendefrequenzen, die übereinander liegen und sich somit gegenseitig stören. „Hit me baby one more… Das Wetter in Brandenburg bleibt kalt…“.Der Wecker muss fast täglich justiert werden, ansonsten verschiebt sich sein Sendersucher automatisch. Doch wenn eines Tages sogar einmal der Fall eintreten sollte, dass der Wecker pünktlich anspringt und dabei nur ein ganz leises Rauschen von sich gibt, kaum hörbar, zum Wecken zu still, Anja würde es hören, als warte sie auf dieses Signal, als Startschuss in den Tag.
Der Tag beginnt mit einer Portion guter Überlegung. Die Schühchen haben eine blaue Schleife, also sollte doch der Gürtel vielleicht auch blau sein. Ein blaues Tuch um die blonden Haare passen zum weißen Kleidchen.
Wenn sie das Haus verlässt, hat sie schon einiges hinter sich. Emails gecheckt, gebügelt und gewaschen, gefrühstückt und vielleicht sogar schon ein Läufchen im Park gemacht. Nun schreitet sie voran. Mit festem, zügigem Schritt wiederholt sie vor ihrem geistigen Auge, ihren langen Tag. Um zehn werde sie spätestens wieder zu Hause sein. Bis dahin sind die folgenden elf, zwölf oder dreizehn Stunden vollkommen ausgebucht. Für Improvisationen lässt sie sich nur wenig Platz und Zeit.
Nach einer langen Fahrt und einer ausgiebigen Lektüre erreicht Anja ihr Ziel. Egal ob Uni, Fachschaft, Studentenzeitung, der Job als wissenschaftliche Mitarbeiterin, Stipendiatentreffen, Nachhilfe, Freunde oder Sport niemand wird sie jemals unvorbereitet sehen. Dem Ereignis angemessen gekleidet, mit den nötigen Informationen oder Stimmungen ausgestattet verzaubert sie die Menschen. Diese Leute fragen sich bisweilen, wo der Haken bei ihr ist. Nachdem sich keine offensichtlichen Schwächen zu finden scheinen, wird sie dann entweder geliebt, oder in eine Schublade verstaut, auf welcher dann draufsteht „anstrengend perfekt“.
Wenn sie ihren langen Tag geschafft hat, kommt sie wieder zu Hause an, stellt ihre Tasche ausgepackt, an die für sie vorgesehene Stelle, zieht sich um, angemessen nun Trainingshose und T-Shirt, wirbelt noch ein wenig in der Wohnung, wischt vielleicht noch einmal die Edelstahlspüle ab, schreibt noch einmal ein paar Emails, organisiert sich selbst mehrere Wochen voraus. Dann klingelt noch einmal das Telefon. Ich rufe sie an und frage wie es ihr geht, höre mir ihren Tag an, gebe ihr Kraft- koste ihr Kraft, wenn ich von meinem Tag erzähle. Am Wochenende, werden wir uns wieder sehen. Anja hätte schon ganz gerne gewusst, was wir den machen werden. Am Wochenende hat sie frei. Sie arbeitet pro Tag ein wenig länger, damit sie zwei Tage lang ihre Ruhe hat. Nach dem Wochenende weiß sie nicht mehr so ganz genau, welcher Teil der Woche der Erholung dienen soll. Aber nur am Wochenende bleibt der Wecker aus. Wenn ich sie nämlich fragend anschaue, ob wir nicht morgen doch ausschlafen könnten, wird sie schwach und stimmt mir zu. Spätestens um acht wacht sie dann aber doch auf, schaut zu mir rüber, sieht das ich noch tief und fest schlafe, kuschelt sich an mich und versucht sich noch ein wenig zu überwinden, um noch ein wenig weiter zu schlafen...

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